Zwei konträre Positionen zu den Kriegsursachen
Der Westen meint: Putin sei ein imperialistischer Tyrann und wolle das Alte Reich des Zaren durch einen willkürlich und ohne jede Vorwarnung geführten Überfall wiederherstellen, und die Ukrainer hasse er ohnehin.
Dagegen steht die Ansicht, die gewaltige Ausdehnung der NATO seit Gorbatschow habe die „Sicherheit“ Russlands immer weiter gefährdet, bis sich die Lage zu einer Existenzgefährdung entwickelt habe; zunächst durch den Maidanputsch, dann durch die Aussicht, die NATO könne sich auch die Ukraine einverleiben. Die Analyse von vielen Hundert der Wikileaks-Dokumente ergibt, daß die USA seit den Neunziger Jahren genau über die roten Linien Russlands informiert waren und auch von den eigenen Beratern immer wieder auf das Risiko hingewiesen wurden: Sie haben mit voller Absicht den Krieg erzwungen.
Sicherheitsfrage damals und heute
Der Terminus Sicherheit wird oft bemüht, wenn eine der Großmächte eine Handlung rechtfertigen möchte. Was bedeutet der Begriff, wenn sich die zwei großen Kernwaffenmächte gegenüberstehen?
In der Phase des Wettrüstens im Kalten Krieg hatten bald beide Rivalen erkannt, daß Sicherheit und Frieden nur erreicht werden könne, wenn die „gesicherte wechselseitige Vernichtung“ gegeben sei: Gleichgewicht des Schreckens, atomares Patt. Lange Vorwarnzeiten reduzieren das hohe Risiko eines Fehlalarms. Der Atomkrieg wird also gewonnen (oder verloren), ohne geführt zu werden. Gelingt einer Partei ein Kippen des Gleichgewichts, so muß der Unterlegene jede unbillige Forderung nach Entwaffnung, Deindustrialisierung, Ausbeutung oder Handelsvorteilen akzeptieren wie nach einer bedingungslosen Kapitulation.
Bis 1991 wurde durch Abkommen erreicht, dieses Gleichgewicht auf einem niedrigeren Niveau einzupendeln: Begrenzung der Reichweiten, der Stationierungsorte, der Zahl der Trägersysteme, und, besonders wichtig, Zahl und Ort der Stationierung der anti-Raketensysteme. Die Begrenzung der Abwehrsysteme ist von zentraler Bedeutung: Verfügt einer der Kontrahenten über ein effektives Abwehrsystem, dann ist die „wechselseitige Vernichtung nicht mehr gegeben und ein Angriff mit Kernwaffen ist wieder ohne Suizid möglich.
NATO-Osterweiterung seit 1990
Es war deshalb durchaus nicht gleichgültig und „zumutbar“, daß sich die NATO seit 1990 um einen halben Erdteil nach Osten ausbreitete, wichtige Abrüstungsabkommen kündigte und im Vorfeld Russlands (in Polen und Rumänien) Abwehrsysteme installiert hat. Das Gleichgewicht war nicht mehr gewahrt!
Damit haben die USA in grandioser Leichtfertigkeit die Situation von 1962 wiederholt, als Chruschtschow auf die NATO-Kernwaffen in der Türkei mit der Stationierung gleichartiger Systeme in Kuba antwortete.
Wie konnte es dazu kommen? Was hatten die Entscheider in den USA vor? Haben sie einfach darauf vertraut, die „einzige Supermacht“ zu sein, und angenommen, Russland sei nun geschwächt genug, so daß die USA (wie unter Jelzin) folgenlos die Hand auf die Rohstoffe des Landes legen könne? Haben die „Eliten“ jahrzehntelang die Situation einfach falsch eingeschätzt und niemand hat sie auf die Gefahren hingewiesen? Inkompetenz, Leichtfertigkeit oder vorsätzliche Aggressivität zwecks Erhaltung und Ausbau des US-Hegemonialbereiches?
Neue Erkenntnisse durch Julian Assange
Durch die gezielte Analyse der geheimen Dokumente, die millionenfach von Julian Assange veröffentlicht wurden, können nun Argumente dazu zur Diskussion gestellt werden. Es scheint, daß die USA direkt und vielfach Informationen und Warnungen verzeichnen konnten, daß Russland die fortdauernde NATO-Erweiterung als große Bedrohung und Herausforderung einordne. Die Bestrebungen des Westens bezüglich der Ukraine seit 2004 und 2014 werde im Besonderen als Rote Linie angesehen. Bereits Jelzin hatte diesen Standpunkt gegenüber Bill Clinton vertreten, die DUMA und führende Kreise Russlands, auch die Liberalen, schlossen sich an. Das Mißtrauen Russlands wurde durch den Jugoslawienkrieg (1999) angefacht, den die NATO ohne Mandatierung durch die UNO ausgelöst hatte. Der Exzeptionalismus der Entscheider in den USA kam voll zur Geltung in der Erklärung, „von nun an“ werde sich das NATO-Imperium zu Kriegen „selbst mandatieren“. Russland brach daraufhin die Beziehungen zur NATO ab.
Der neue Präsident Putin nahm mehrere Jahre lang eine wohlwollende und unverkrampfte Haltung gegenüber der NATO und den USA ein. Er favorisierte Gorbatschows Vision vom „gemeinsamen Haus Europa“. Er nahm die Beziehungen zur NATO wieder auf, ratifizierte den START-2-Vertrag und vertrat sogar selbst die Idee einer NATO-Erweiterung: Da der NATO ja keine feindselige UdSSR mehr gegenüberstände, könnte sie sich doch von einer militärischen und aggressiven in eine politische Organisation entwickeln und zu einem Rückgrat der Kooperation USA-Europa-Russland werden. Russland könne schließlich selbst dem Bündnis beitreten. Mit dieser versöhnlichen Politik stellte sich Putin frontal gegen die russische politische Kaste und nahm massive Anfeindungen in Kauf. Allerdings beharrte auch PUTIN darauf, die Ausdehnung einer militärisch offensiven und bedrohlichen NATO-Erweiterung sei inakzeptabel: „… eine Bedrohung für Russland, eine Destabilisierung Europas und der ganzen Welt!“.
Noch 2002 unterstützte Putin im „NATO-Russland-Rat“ gegenüber dem Präsidenten Bush die friedlich-konstruktive Erweiterung. Berlusconi pflichtete bei: Russland müsse als Teil der NATO-Familie gesehen werden und es spreche nichts gegen Putins Vorbehalt, einer Erweiterung müsse eine Vereinbarung zwischen NATO und Russland vorausgehen.
Zahlreiche Mahner vor Ost-Erweiterung
Eine der Wikileaks-Depeschen (2007) stammt von dem Kreml-Kritiker Andrej Kortunow, heute Generaldirektor der Russ. Intern. Affairs Council. Er wies auf Fehler und antirussische Initiativen der USA hin, die Invasion des Irak, die mangelnde Würdigung der entgegenkommenden Haltung Russlands, die Kündigung des ABM-Vertrages und die NATO-Ausdehnung.
Es folgten zahlreiche massive Warnungen der Verbündeten vor der NATO-Erweiterung, besonders im Hinblick auf Georgien und die Ukraine. Maurice Gourdault-Montagne, Berater des französischen Präsidenten warnte 2005: „Wenn es in Europa noch einen potentiellen Kriegsgrund gäbe, dann sei dies die Ukraine.“
Zahlreiche andere hochrangige Politiker Frankreichs mahnten, schon die Absicht, Georgien oder der Ukraine könnten Avancen zu einer NATO-Verbindung gemacht werden, sei „das unbedachte Überqueren russischer Stolperdrähte“. Auch aus Deutschland kamen gleichlautende Signale: Ein Ausgreifen auf die Ukraine sei besonders bedenklich: „”Während Georgien ‘nur ein Käfer auf der Haut des Bären’ sei, sei die Ukraine seit über tausend Jahren untrennbar mit Russland verbunden”, so Sicherheitsberater Rolf Nikel,
Italien stieß ins gleiche Horn: Norwegens Außenminister Gahr Stohre teilt mit, er „verstehe die Einwände Russlands, die NATO müsse die Beziehungen zu Russland normalisieren“.
NATO-Osterweiterung ist Einkreisung Russlands
Der US-Gesandte in Moskau William Burns teilt als Resumé zahlreicher Gespräche mit russischen und US-amerikanischen Denkern und Politikern mit, „NATO-Erweiterung und die Stationierung der-Raketenabwehrsystemen werde in Russland als inakzeptable Einkreisung aufgefaßt“. Russische Intellektuelle und Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten politischen Lagern erklären, „die vorbehaltlose Unterstützung der US-Interessen nach 9/11 durch Russland sei vom Westen feindselig und rücksichtslos mit der NATO-Erweiterung, US-Systemen in Russlands Hinterhof und massiver Einwirkung mit Dollarmilliarden in der Ukraine und in Georgien quittiert worden. Legitime Interessen Russlands blieben unberücksichtigt“.
Burns warnt vor dem Abgleiten in eine „klassische Konfrontationshaltung“ mit Russland. Im März 2008 legt er nach: Einer der wenigen Bereiche, in denen zwischen den Entscheidern, den Beratern und Experten und der informierten Öffentlichkeit in Russland eine einheitliche Meinung bestünde, sei die strikte Ablehnung der NATO-Osterweiterung, insbesondere in die Kernlande Ukraine und Georgien.
Würde die Politik der Einkreisung fortgesetzt, so würde der bis dahin feste Wunsch der russischen Militärs nach einer Zusammenarbeit mit der NATO erlöschen.
Fast ein halbes Hundert von Depeschen von russischen Beamten, Diplomaten, Abgeordneten und auch vom Präsidenten selbst beschreibt die Osterweiterung als „besorgniserregend“ und „alarmierend“, es sei eine „Sicherheitsbedrohung“; und es werden Spannungen an den Grenzlinien vorausgesagt. Außenminister Lawrow und Botschafter Burns nehmen in gemeinsam verfaßten Depeschen gegen die NATO-Ausweitung Stellung, Schwergewicht der Argumentation liegt wieder auf Ukraine +Georgien. Burns warnt nachdrücklich, der Versuch, die Ukraine in die NATO zu integrieren, würde „Moskau dazu veranlassen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen“.
Klare Warnsignale aus Russland
Russland würde die Maßnahmen der USA nicht nach ihren deklarierten Absichten, sondern nach dem Potential bewerten, das NATO-Militär an den Grenzen Russlands bedeutet. Der frühere russische Premier Primakow (aus dem moderaten Umfeld von Gorbatschow) wird von Burns zitiert: „Die strategische Zusammenarbeit sei bedroht. Es wäre ein kolossaler Fehler, zu glauben, Russlands Reaktionen könnten jenen aus der Jelzin-Ära entsprechen, als das Land eine Phase strategischer Schwäche durchlebte“.
Putin geißelte auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 die NATO-Erweiterung “ungewöhnlich scharf” als „Teil eines umfassenderen, destabilisierenden Missbrauchs des vermeintlichen Status als einzige Supermacht durch die USA“. Russland werde eine Verschiebung des Kernwaffen-Patt zugunsten der einen Seite nicht dulden“.
Putins liberaler und gemäßigter Nachfolger im Präsidentenamt Dmitri Medwedew wiederholte -ebenso wie seine Beamten und Politiker- die „bekannten russischen Positionen zur NATO-Erweiterung“. Nach dem Krieg mit Georgien (2008) sieht sich Medwedew trotz Höflichkeit und gemäßigtem Auftreten genötigt, mit dem Abbruch der Beziehungen zur NATO zu drohen und auch er greift die „Einkreisung“ durch die Militärallianz an. „Russland fühle sich längst stark genug, um dem Westen die Stirn zu bieten”, wenn dieser seine Bedenken ignoriere. Eskalationen wie das Raketenabwehrabkommen zwischen den USA und Polen (2008) machten deutlich, daß die russlandfeindlichen Aktionen “nicht aufhören würden”, sagte er, ” Nun müßte Moskau zeigen, dass es wie die USA Schritte unternehmen kann und wird, die es zur Verteidigung seiner Interessen für notwendig hält”. Warnungen kamen nun häufig von anerkannten Liberalen und Befürwortern der Zusammenarbeit mit den USA: Das Vorgehen des Westens gebe der „Vision von einer ‘Festung Russland’ Legitimität“.
Der unermüdliche Warner Burns kabelt: Russland sei darüber besorgt, daß die Bevölkerung des multiethnischen Staates Ukraine bezüglich der Haltung zur NATO-Integration ethnisch gespalten sei: Die ethnisch russischen Ukrainer lehnten die Mitgliedschaft scharf ab. Diese Spaltung berge die Gefahr von Gewaltausbrüchen und Bürgerkrieg in sich. „Russland müßte dann entscheiden, ob es eingreift, eine Entscheidung, der sich Russland gerade NICHT stellen möchte!“
USA schläge alle Warnungen in den Wind
Auf diese Flut von Warnungen und Analysen der bedrohlichen Lage, selbst von den NATO-Verbündeten und aus der Ukraine selbst reagierten die maßgeblichen Beamten in Washington abweisend, gelangweilt und desinteressiert. Teile der Apparate sahen die Einwände Russlands jedoch als plausibel an. Etwa enthält der bekannte Bericht der Pentagon-Beratergruppe Rand Corporation die Aussage, ‚Ängste des Kremls vor einem „direkten militärischen Angriff auf Russland” seien “sehr real” und könnten die russische Führung zu überstürzten, selbstzerstörerischen Entscheidungen veranlassen‘ “Die Bereitstellung von immer mehr US-Militärausrüstung und Beratung” für die Ukraine könnte Moskau in Zugzwang setzen. Das Land könne sich gezwungen wähnen, mit einer neuen Offensive reagieren und weiteres ukrainisches Territorium erobern zu müssen”.
Der Westen hat trotz allem den auf Konfrontation gerichteten Kurs Immer weiter geführt, die Zusammenarbeit mit der Ukraine wurde noch vertieft. Westliche Truppen wurden auf ukrainische Stützpunkte verlegt, Vor dem „Maidan“ wurden ukrainische Milizen im Städtekampf ausgebildet; Ukrainische Truppen erhielten eine NATO-Ausbildung; zwei neue Marinestützpunkte wurden geplant und eine Fülle von NATO-Waffen, auch Angriffswaffen, stapelten sich in den Arsenalen. Die USA investierten gigantische Summen, Victoria Nuland nannte 5 Milliarden $ allein bis 2014. Trump und sogar Obama hatten diese Interventions- und Aufrüstungspolitik strikt abgelehnt, weil sie darauf angelegt sei, „eine katastrophale Reaktion Moskaus Zu provozieren“. Kompromisse oder Verhandlungslösungen wurden rundheraus abgelehnt.
“Ich akzeptiere keine rote Linie” (Joe Biden)
“Ich akzeptiere keine rote Linie”, sagte Biden im Vorfeld der Invasion, als seine Regierung Verhandlungen mit Moskau über den NATO-Status der Ukraine ablehnte.
Fazit: Die jahrzehntelangen Herausforderungen und aggressiven Provokationen des Westens bedeuten keineswegs, der Krieg Putins sei „gerechtfertigt“. Die USA konnten den Kriegsausbruch aber voraussehen, und sie haben dennoch ihren aggressiven Kurs beibehalten. Zuletzt gab es für Russland nur die Wahl zwischen Krieg oder Kapitulation ohne Krieg. Denn die Aufstellung von Kernwaffenträgern, sogar auch von anti-Raketenstellungen direkt an den Grenzen hätte die Aufgabe des nuklearen Gleichgewichts und damit die Auslieferung Russlands an die Interessen der Machthaber in den USA bedeutet.
Es war offensichtlich das Ziel der westlichen Politik, Russland in diese Zwickmühle zu bringen. Die gezielte Politik der USA hat sich durchgesetzt.
Der Krieg in der Ukraine ist keineswegs ein ganz „Besonderer Krieg“, als der er von den Medien immer dargestellt wird. Krieg ist Krieg. Immer gibt die eine Partei „den ersten Schuß“ ab, immer kann man das Interesse einer Großmacht definieren.
Auch der Jugoslawienkrieg war ein NATO-Krieg gegen Europäer, die Sprengung der Ostseeröhre war ein Kriegsakt von NATO-Staaten gegen lebenswichtige deutsche Infrastruktur. Der Irakkrieg verlief erheblich brutaler und blutiger, Albright hielt den Tod von 500.000 Kindern für „angemessen“ und „den Preis wert“. Amerika kämpfte mit seinen Hilfswilligen in Afghanistan, der extrem brutale Vernichtungskrieg im Jemen wäre ohne die USA nicht möglich. Syrien, Libyen, Georgien, Sudan, Eritrea, die Liste ist lang.